Meine Herren! meine Damen! Sehn sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix. Zeig‘ dein Talent! Zeig deine viehische Vernünftigkeit!, so Georg Büchner in seinem unvollendeten sozialen Drama „Woyzeck“. Nicht nur er wird gleichsam traktiert und entmenschlicht. Ein Werk mit erschreckend aktuellen Bezügen weltweit.
Und das sahen die Schülerinnen und Schüler der beiden Jahrgangsstufen des Ganztagsgymnasiums Osterburken. Präsentiert wurde das Stück von einem einzigen Schauspieler, der sich – wie in einem Käfig in unmittelbarer Nähe der Schülerinnen und Schüler – in Woyzecks menschenverachtende Lage hineinfallen ließ. Unterstützt von fast lebensgroßen Puppen nahm er die Jugendlichen im sprichwörtlichen Sinne hautnah dabei mit.
Ungefähr 30 Jahre nach dem Tod von Georg Büchner wurden die ersten Menschenschauen abgehalten, Menschen wie Tiere in Käfigen gehalten und ausgestellt. Die Inszenierung von Regisseur Thorsten Kreilos nimmt diesen Sachverhalt als Ausgangspunkt, um sich dem Kosmos WOYZECK zu nähern.
Woyzeck erscheint in diesem Sinne als „astronomisches Pferd“, als geschlagenes Ausstellungsstück, als Laborratte, als gehetzter Straßenköter. Mit fiebrigen Augen durchwühlt er Kleiderberge, die textilen Überreste von Menschen, deren Blut in den Fasern klebt und die Geschichte von Gewalt erzählt, die der Mensch dem Menschen angetan hat, immer wieder und weiter antut. Man denke nur an Ausschwitz oder die ukrainischer Städte. Es ist eine Welt im apokalyptischen Zerfall. Woyzeck erkennt die Wahrheit und den Verrat, gegen die er aber machtlos ist. Folgerichtig landet sein Kind im Müll bzw. am Zaungitter.
Leichenkleider und Kleiderleichen sind auch die inneren Figuren der Geschichte Woyzecks. Sie stehen vor den Augen der Jugendlichen und ihrer Lehrer wieder auf. Wie Untote tauchen sie als Puppen, als Figurenfratzen aus dem Kleidermeer auf: Marie, der Tambourmajor, der Doktor, der Hauptmann… Es ist völlig egal, wie sie aussehen, auch sie sind in gewisser Weise Opfer der Umstände.
Wie in einem Traum spielt Woyzeck seine Erlebnisse, die andernorts und zu einer anderen Zeit in seiner Biografie real stattgefunden haben, noch einmal fast zwanghaft für sich durch. Ein durchaus denkbarer Revolutionsausruf gegen die unterdrückende Obrigkeit unterbleibt, da sich selbst die unteren Schichten des Volkes sich gegenseitig neidzerfressen zerfleischen.
Die Zuschauer sind die Voyeure, die dieser „Menschenschau“ beiwohnen. Insofern wird der in diesem Fall aus dem Off operierende Marktschreier aus Büchners Dramenfragment zur dramaturgischen Klammer, zum Überbau: Woyzeck selbst wird in dieser Jahrmarktsbude ausgestellt. Auf dem kapitalistischen Markt wird er zur zynischen Allegorie für die überall verratenen Menschen, für die die Mitmenschen kein Auge haben, die sich immer schon in den schattigen Ecken irgendwelcher Hinterhöfe herumdrücken, sich in Altkleider-Containern wegducken und ihrem eigenen Getrieben-Sein hinterherdackeln. So sind die Menschen.
Der Fachschaftsleiter für Deutsch, Oberstudienrat Oliver Schröder, war seitens der Schule für die Organisation verantwortlich. Unterstützt wurde er von den Fachlehrern der beteiligten Kurse. Woyzeck ist in diesem und im nächsten Schuljahr Abiturthema. Schauspieler Ruven Honnef nahm sich im Anschluss an sein jeweils 70-minütiges Spiel Zeit, um mit den beiden Jahrgangsstufen die Interpretation nach zu besprechen. Fordernde Rollen können einen schon mitnehmen, gerade die Empfindungen der Figur des Woyzeck, dessen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, so Honnef. Insgesamt habe er, der seit einem Jahr als professioneller Schauspieler arbeitet und für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist, nur zwölf Tage Zeit zur Vorbereitung gehabt. Das Bühnenbild sei Interpretationssache: Ist Woyzeck im eigenen geistigen Zustand eingesperrt? Ist es ein Schlachtfeld? Jedes Stück laufe immer etwas anders, weil die Bedingungen unterschiedlich sind.
Das veranstaltende THEATERmobileSPIELE ist ein freies, in Karlsruhe ansässiges und in ganz Baden-Württemberg agierendes Profi-Theater, das sich ausschließlich mobilen Theaterproduktionen widmet. Das Theater kommt in die Schule, in das Klassenzimmer. Dabei sucht das Theater immer den Schülern sehr nahe Spielsituation. Diese besondere Spielsituation ist im Sinne von ästhetischer Bildung bestens dafür geeignet, einen ge- und bewohnten funktionalen Alltagsraum mit neuen Blickwinkeln auf Welt aufzuladen, mit Phantasie in einen fiktionalen Raum zu verwandeln, als einen möglichen Ort für Geschichte(n) „erscheinen“ zu lassen. Man versenke sich einmal in das Leben des Geringsten! Das tut Büchner mit Woyzeck – eben allegorisch und politisch kritisch. Gefördert werden die Aufführungen durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.